Meine Frage bezieht sich auf die 10 Lesearten (Qirâ’ât) des Qurâns. Ist es auch möglich, dass in einer Leseart (z.B. in der Qirâ’a nach Warsch) ein Wort auftaucht und in einer anderen nicht? Damit möchte ich nicht sagen, dass eine Leseart unvollständig oder fehlerhaft sei – davor suchen wir Zuflucht bei Allâh. Mich interessiert nur, wie weit die Unterschiede zwischen den Lesearten gehen können und ob sich das auch auf einzelne Wörter erstreckt, die in einer bestimmten Leseart fehlen können. Möge Allâh es Ihnen mit dem Besten vergelten!
Der Lobpreis gebührt Allâh und möge Allâh Seinen Gesandten sowie dessen Familie und Gefährten in Ehren halten und ihnen Wohlergehen schenken!
Unterschiede in den Lesearten im Hinblick auf einzelne kleine Wörter oder Buchstaben existieren durchaus. So kommt an einer Stelle in der Sûra At-Tauba nach der Leseart des Ibn Kathîr die Präposition „min“ vor: „min tahtiha l-Anhâr“. Die Mehrheit der Lesearten hat die Variante „tahtaha l-Anhâr“ ohne „min“ (die Bedeutung bleibt ungefähr gleich: [Gärten] unter denen Flüsse fließen; Anm. d. Ü.).
In Sûra 57:24 liest die Mehrheit „fa inna-llâha huwa l-Ghaniyyu l-Hamîd“ (So ist wahrlich Allâh, Er, der Reiche und Lobenswürdige). Nâfi, Abû Dscha‘far und Ibn Âmir lesen den Vers ohne „huwa“ (So ist wahrlich Allâh der Reiche und Lobenswürdige).
Der Grund für diese Unterschiede liegt darin, dass in manchen von den Sahâba erstellten Qurânexemplaren das betreffende Wörtchen vorkam und in anderen nicht. Al-Dschazarî schreibt in seinem Werk „An-Naschr fi l-Qirâ’âti l-Aschr“: „Es gibt unterschiedliche Lesungen bei „tadschrî tahtahâ“. Nach Ibn Kathîr wird hier die Präposition „min“ gelesen und daher steht das folgende Wort im Genitiv: „tadschrî min tahtihâ“ – so war das in der damals für Mekka erstellten Ausgabe. Die übrigen Ausgaben enthalten kein „min“ und lesen daher das Wort darauf als „tahtahâ“.“ Ebenfalls heißt es in „An-Naschr fi l-Qirâ’âti l-Aschr“: „Ein Unterschied findet sich im Vers „Fa-inna-llâha huwa l-Ghanî“. Gemäß der frühen medinensischen Ausgabe, die nach Medina geschickt wurde, lasen Nâfi, Abû Dscha’far und Ibn Âmir ohne „huwa“ (Er). Neben der Ausgabe von Medina war das auch im Mushaf von Damaskus der Fall, während die anderen mit „huwa“ lesen.
Abû Schâma schreibt in „Ibrâz Al-Ma’ânî min Hirzi l-Amânî“: „Wa min tahtiha“, (Sûra 9:100; Präposition „min“ mit folgendem Genitiv) ist die Lesung nur nach der mekkanischen Ausgabe, nicht nach den anderen. Ibn Kathîr ist dieser Lesung gefolgt und liest „min“ und danach einen Genitiv, während die anderen es ohne „min“ haben und daher „tahtahâ“ im Akkusativ in lokaladverbialer Bedeutung lesen.“
Dies liegt daran, dass der Qurân auf verschiedene Arten herabgesandt wurde, und diese alle von Allâh stammen. Sie alle enthalten die Wahrheit und wurden vom Gesandten Allâhs über Dschibrîl empfangen. Der Gesandte Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) hat sie alle seinen Gefährten vorgetragen. Jeder von ihnen übernahm eine bestimmte Leseweise, wobei alle tatsächlich das Wort Allâhs darstellen. Als der dritte rechtgeleitete Kalif Uthmân ibn Affân (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) eine autoritative Ausgabe des Qurâns zusammenstellen wollte, war es ihm nicht möglich, all diese verschiedenen Lesearten in einem Mushaf zu vereinen. Dies hätte die mehrfache Schreibung eines Wortes erfordert. Daher schrieb er nach der Aussprache der Quraisch und ordnete eine Vervielfältigung an, um die Exemplare in die wichtigsten Städte der damaligen islâmischen Welt zu entsenden. Dabei verteilte er unterschiedliche korrekte Lesemöglichkeiten auf diese Exemplare. In manchen Ausgaben gab es ein Wort, das in anderen Ausgaben ausgelassen wurde. Ziel war es, dass alle Lesemöglichkeiten für diese Umma bewahrt werden, so wie sie Allâh der Erhabene sie herabgesandt hat. Imâm Abû Amr Ad-Dânî hat in seinem Werk „Al-Muqni fi Rasm Masâhifi l-Amsâr“ ein eigenes Kapitel in Bezug auf die genannten unterschiedlichen Wörter in den Ausgaben des Hidschâz, des Irak und Syriens im Vergleich zu der Ausgabe, die Uthmân bei sich behalten hatte. Er schreibt hierzu: „Wenn die Frage nach den unterschiedlichen Schreibformen und den zusätzlichen Buchstaben in den Qurânexemplaren des Kalifen Uthmân aufkommt, sage ich: ‚Der Grund ist für uns, dass der Befehlshaber der Gläubigen Uthmân ibn Affân (möge Allâh mit ihm zufrieden sein) den Qurân sammelte, davon mehrere Abschriften anfertigen ließ, in der Schreibung den Dialekt der Quraisch bevorzugte und falsche und nicht zuverlässig überlieferte Formen ausließ. Dies tat er aus Rücksicht auf die islâmische Umma und um es den Muslimen zu erleichtern. Für ihn war klar, dass diese unterschiedlichen Varianten von Allâh dem Allmächtigen so herabgesandt und vom Propheten vernommen worden waren. Er war sich bewusst, dass eine Sammlung dieser Varianten in einer einzigen Abschrift in dieser Weise nicht möglich war, außer er hätte manche Wörter doppelt geschrieben, was für weitere Verwirrung und Verwechslung gesorgt hätte. So verteilte er diese Varianten auf verschiedene Exemplare: In einem kam ein bestimmtes Wörtchen vor, in einem anderen wurde es ausgelassen, damit die Umma es so bewahre, wie es von Allâh dem Allmächtigen herabgesandt und vom Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) gehört worden war. Dies ist der Grund für die Unterschiede in den Ausgaben, die für die Zentren der islâmischen Welt erstellt wurden.‘“
Zuvor hatte bereits Imâm Abû Ubaid Al-Qâsim ibn Salâm in einem eigenen Kapitel seines Werkes „Fadâ’ilu l-Qurân“ die Unterschiede der Ausgaben des Hidschâz und des Irak behandelt. In einem anderen Kapitel stellte er die Varianten der syrischen Ausgabe der des Irak gegenüber. Diese stimmen in manchen Punkten mit der Hidschâz-Ausgabe überein, in anderen weichen sie ab. All das ist dort im Detail nachzulesen.
Und Allâh weiß es am besten!
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